Provokation Emanzipation - wie sieht es in islamischen Gemeinschaften aus?

Freitag 05. Februar 21 23:46

 

Bericht über das Fachgespräch mit der Publizistin Sineb El Masrar bei Frauen für Freiheit über Rollenbilder im Wandel am 28. November 2019

 

Autor: Gero Ambrosius

Eine tiefgreifende Angst unter Muslimen, das sei das wesentliche Hindernis einer offenen Debatte. Der Schrecken in der muslimischen Community davor, dass Kritik an islamischer Gesellschaft, Kultur und Religion die wunden Punkte offen legen könnte, von denen die meisten doch zumindest ahnten, dass es sie gibt. Denn zu zahlreich und offensichtlich seien die Widersprüche in der herrschenden Lehre. Diese Angst vor der Demontage führe dazu, dass unter Muslimen bei jedem Anschlag meist die erste Reaktion der Wunsch sei, es möge bloß nicht wieder jemand aus den eigenen Reihen verantwortlich sein. Sie führe dazu, dass schon leise und harmlose Kritik von innen Gefahr laufe, gleich als Angriff gegen Gott dramatisiert zu werden. Und sie sei es, die dazu führe, dass selbst nüchterne und sachliche Kritik von außen als antimuslimischer Rassismus diffamiert wird.

In einem fesselnden öffentlichen Fachgespräch mit Rebecca Schönenbach, Vorsitzender von Frauen für Freiheit, am 28.11.2019 in Berlin weist die Autorin Sineb El Masrar aber darauf hin, wie wichtig aus ihrer Sicht trotz aller Notwendigkeit von Kritik die Differenzierung sei. Allzu oft würde die Thematik nur holzschnittartig behandelt. Der verängstigten Abwehr jedes kritischen Einwandes auf muslimischer Seite und einer paternalistischen Inschutznahme von links stehe eine hysterische Pauschalisierung von rechts gegenüber. Diese Polarisierung in der öffentlichen Debatte sei El Masrar Motivation gewesen, über die Heterogenität im muslimischen Milieu zu schreiben. Gerade zu Beginn ihrer Autorentätigkeit habe in der Debatte eine sehr starke und einseitige Fokussierung auf negative Aspekte dominiert. So sei über muslimische Frauen oft nur im Zusammenhang mit Zwangsheirat, Ehrenmord und Genitalverstümmelung gesprochen worden. Umso wichtiger sei ihr, in ihrer Arbeit auf die Vielschichtigkeit einzugehen, ohne damit Probleme wie die genannten kleinzureden. So wirbt El Masrar auch darum, das Kopftuch nicht ausschließlich als Instrument der Unterdrückung zu betrachten sondern zu berücksichtigen, dass es sehr unterschiedliche Funktionen für die Trägerinnen erfüllen könne. So würde beispielsweise zu wenig wahrgenommen, wenn entgegen dem Stereotyp Eltern und soziales Umfeld Mädchen und Frauen gerade nicht zum Tragen des Kopftuches nötigen sondern dieses umgekehrt ausdrücklich ablehnen würden – und sich muslimische Mädchen dennoch dafür entscheiden. Ein wichtiges Motiv für das Tragen des Kopftuches könne auch eine häufig unsichere Identität sein. Viele muslimische Migranten wüssten kaum etwas über ihren kulturellen Hintergrund, über Werte, Sicht- und Lebensweisen in den Herkunftsgesellschaften und nutzten Symbole wie das Kopftuch um diese Unsicherheit zu kompensieren.

Das Differenzieren und Aufbrechen von Stereotypen müsse aber keineswegs zur Relativierung von Unrecht führen. Zwischen pauschalisierender Abwertung und verklärender Beschönigung sei es nötig, zur demokratischen Selbstverständlichkeit des Wettbewerbs um das bessere Argument zurückzukehren und Für und Wider zu berücksichtigen, wenn es gut begründet ist. Diesem Wettbewerb müsse sich die muslimische Community gerade in Europa viel stärker stellen. Denn Schönenbach weist darauf hin, dass die Debatte in islamischen Ländern viel offensiver geführt werde und umfangreicher und grundlegender Kritik geäußert und auch in Protesten auf die Straße getragen werde. Trotz drakonischer Strafen protestierten die Menschen für die Gleichberechtigung von Frauen oder das Recht auf freie Meinungsäußerung. Ein wesentlicher Katalysator dieser Entwicklung sei dabei die digitale Vernetzung. Früher seien die Menschen mit einer Frage zur religiösen Begründung bestimmter Verhaltensnormen auf die oft ausweichende Antwort eines lokalen Geistlichen angewiesen gewesen. Heute könnten sie im Internet unzählige verschiedene Antworten miteinander vergleichen und sich erheblich besser ihre eigene Meinung bilden. Der offene Wettbewerb um die Deutungshoheit sei in vollem Gange. Unter den zahlreichen Versuchen, die orthodoxe Lehre mit ihren vielen Widersprüchen zu reformieren sei jedoch leider auch der Extremismus der Salafisten ein möglicher Ansatz, so El Masrar. Er missachte zwar jegliche Menschlichkeit, argumentiere aber theologisch plausibel. Und er habe in diesem Wettbewerb mit offenem Ausgang für viel zu viele Muslime ganz offensichtlich eine sehr hohe Attraktivität.

Ein Phänomen, dass leider auch die muslimische Angst vor Veränderung ein Stück weit plausibel macht.

Provokation Emanzipation - wie sieht es in islamischen Gemeinschaften aus?
Sineb El Masrar

Bitte beachten Sie zum Thema auch unsere nächste Veranstaltung:

Online-Veranstaltungsreihe „FrauenStimmen gegen Gewalt“

Wir sind nicht eure Blöße - Feminismus in Tätersystemen

Khulud Alharthi, Naïla Chikhi, Ninve Ermagan, Hannah Wettig

Moderation: Dr. Agnes Imhof

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