Offener Brief an die Grünen Frauen in Berlin bezüglich des Antrags "Selbstbestimmung und gelebte Vielfalt - Für ein Ende der Diskriminierung kopftuchtragender Frauen im Berliner öffentlichen Dienst und damit für die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes"

Donnerstag 24. September 20 22:43
Sehr geehrte Frau Siemon, sehr geehrte Frau Hoppenau, sehr geehrte Frau Herb, sehr geehrte Frau Brennauer, sehr geehrte Frau Weitzl, sehr geehrte Frau Dhakal, sehr geehrte Frau Schneider,
 
liebe Grüne Frauen,
 
mit Erstaunen haben wir Ihren Antrag für die GRÜNE FRAUEN*VOLLVERSAMMLUNG 2020 gelesen.
 
Ihre Ansätze, alle Frauen, unabhängig von Herkunft und Religion zu empowern, stehen im Widerspruch zu Ihrer Forderung, das Berliner Neutralitätsgesetz abzuschaffen. Sie schreiben "Die Idee des Gesetzes ist, dass Staatsbedienstete in ihrem Auftreten ein bestimmtes Bild von vermeintlicher Neutralität verkörpern sollen. Wenn wir Neutralität und das Recht auf negative Religionsfreiheit fordern, müssen wir genauer hinschauen: Kein*e Lehrer*in, Richter*in oder Polizist*in ist vollkommen neutral und frei von eigenen Wertvorstellungen und Weltanschauungen. Dies ist auch keine Bedingung für den Staatsdienst. Kein Mensch legt ihr Äußeres oder ihre Weltanschauungen gänzlich ab, auch nicht beim Schlüpfen in eine staatliche Robe oder Uniform. (...) Neutral muss (und kann) nicht der Mensch sein, neutral muss der Staat gegenüber den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen sein. " Allerdings folgt daraus auch, dass Personen, die in ihrer Funktion den Staat vertreten, eben jene vorhandenen Denkmuster und Überzeugungen zurückstellen müssen, um die Neutralität des Staates zu garantieren. Wer darauf besteht, den eigenen Glauben und die eigene Weltanschauung für die Zeit der Funktionsausübung als Vertreterin oder Vertreter des Staates nicht zurückzustellen, ist ungeeignet, den Staat als Lehrerin, Polizistin oder Richterin zu vertreten.
 
Die Neutralität des Staates ist auch ein Resultat des jahrzehntelangen Kampfes von Frauen, jede religiöse Macht zurückzudrängen, um ihr Leben frei von religiösen Keuschheitsregeln führen zu dürfen. Diesen Kampf setzen heute Frauen in der gesamten islamischen Welt zu Tausenden fort, sie werden dafür unter anderem in Saudi Arabien und dem Iran wegen Unterhöhlung des Staateswesens eingekerkert und gefoltert. Lange standen die Grünen für Frauenrechte, für den Kampf um Selbstbestimmung, und waren so ferderführend, Grundlegendes wie die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe durchzusetzen. Jedoch gibt es Frauen und Mädchen in Deutschland, für die die für uns so selbstverständlichen Grundrechte in weiter Ferne sind. Mädchen, die unter dem Verweis auf religiöse Normen zu Bekleidungsvorschriften, Geschlechtertrennung außerhalb der Familie und Zwangsverheiratungen gedrängt werden und denen bei Weigerung Strafen von sozialer Isolation bis hin zu einem gewaltsamen Tod drohen. Hatun Sürücü, ermordet von ihren eigenen Brüdern, weil sie sich nach deren Ansichten zu westlich, also selbstbestimmt verhielt, gehörte zu diesen Frauen.
Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Musliminnen trägt kein Kopftuch. Musliminnen mit Kopftuch stehen nicht für die Religion. Auch die Mehrzahl der Kopftuch tragenden Musliminnen würde sicher für die Freiheit der Wahl eintreten. Solange aber Frauen in Europa, Frauen in Berlin, um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie sich gegen das Kopftuch entscheiden, ist der Kampf der Frauenbewegung nicht gewonnen. Solange religiöse Normen in Teilen unserer Gesellschaft über das Grundgesetz gestellt werden, ist es wichtig, die Neutralität des Staates und damit den Schutz dieser Frauen vor Verfolgung auch durch Gesetze sicherzustellen. Dass dies keine abstrakte Gefahr ist, zeigt die Beschreibung Berliner Lehrerinnen und Lehrer, die ihr hier Entsetzen über das Urteil zum Ausdruck bringen: https://www.tagesspiegel.de/berlin/reaktionen-von-paedagogen-auf-kopftuch-urteil-wir-haben-schueler-aus-gegenden-in-denen-unglaeubige-bekaempft-werden/26138130.html.
 
Sie schreiben:
" In der öffentlichen und politischen Debatte wird das Kopftuch zum Teil pauschal als anti-feministisch gehandelt. Dies sehen wir als eine diskursive Bevormundung. Es ist eine unangebrachte Verkürzung, das Kopftuch pauschalisierend als Zeichen patriarchaler Unterdrückung zu lesen – eine Lesart, die auch gerne von rechten Kräften gegen Muslim*innen genutzt wird und gegen die wir uns geschlossen stellen." Richtig ist, dass jede erwachsene Frau das Recht hat, ihr Leben selbstbestimmt zu leben. Aber Sie wiederholen leider einen Fehler, der den rechten Kräften in die Hände spielt. Sie unterschlagen, dass Frauen aus islamischen Gemeinschaften und Kulturen seit Jahren das Kopftuch als Zeichen patriarchaler Unterdrückung kritisieren. Dadurch üben Sie die diskursive Bevormundung gegenüber genau jener Gruppe aus, die Sie meinen, vor Diskriminierung zu schützen. Ihr nächster Satz "Für unseren Feminismus ist Selbstbestimmung zentral: Wir bevormunden uns untereinander nicht, sondern stehen solidarisch nebeneinander" wird Makulatur, wenn Sie sich weiter weigern, die Stimmen linker Migrantinnen zur Kenntnis zu nehmen. Auf diesen Brief haben die Frauen von Ihrem Vorstand nicht einmal eine Antwort erhalten: https://hpd.de/artikel/opfer-keine-opfer-sein-wollen-17822?fbclid=IwAR2g-dlB4I9uU_LXTvBKvgx91Nni-k8YkdpKhH0dFz_t3PKBX404DNw68ZU. Jetzt könnten Sie ihn sich zu Herzen nehmen, ebenso diese Stellungnahme zum Urteil über das Berliner Neutralitätsgesetzes: https://www.facebook.com/Autonome.Migrantinnen/posts/772726533540830.
 
Die Gleichsetzung des Kopftuchs mit Musliminnen ist eine Spielart der Muslimfeindlichkeit, denn durch diese Gleichsetzung wird die Lebensrealität der meisten Musliminnen ignoriert, und der Mehrheit der Musliminnen abgesprochen, muslimisch zu sein. Mit der Gleichsetzung werden fundamentalistische, frauenfeindliche Kräfte gestärkt, die sich zu Unrecht zu Stellvertretern aller Musliminnen und Muslime stilisieren und das Kopftuch als Zeichen des Muslimischseins zu etablieren versuchen. Mit der Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetzes würde eben jene strukturelle Diskriminierung gegen die Mehrheit der Musliminnen verstärkt, die Sie, liebe Antragstellerinnen, verringern wollen.
 
Wir fordern Sie daher auf, auf der Grüne Frauen* Vollversammlung 2020 statt für die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes dafür zu stimmen, eine Neufassung des Berliner Neutralitätsgesetzes in einer Form einzuleiten, die den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtes genügt.
 
Es wäre sehr traurig, wenn Frauen aus islamischen Gemeinschaften die Grünen Frauen erst mit Tomaten bewerfen müssten, um endlich Gehör zu finden.
 
Mit feministischen Grüßen
 
Rebecca Schönenbach
 
Vorsitzende von Frauen für Freiheit e. V.
Offener Brief an die Grünen Frauen in Berlin bezüglich des Antrags "Selbstbestimmung und gelebte Vielfalt - Für ein Ende der Diskriminierung kopftuchtragender Frauen im Berliner öffentlichen Dienst und damit für die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes"
Foto: Isabelle Blanchemain, Quelle: Flickr