Bericht einer Auswanderin

Mittwoch 18. Oktober 17 01:30

Eine Stimme für Freiheit: Wir veröffentlichen in unregelmäßigen Abständen Zuschriften, die uns erreichen. Dies ist der Bericht einer Auswanderin, die ihre Tochter in einer Gesellschaft aufwachsen sehen möchte, in der Gleichberechtigung herrscht:

Heute hatte ich das erste Mal seit langem wieder ein positives Gefühl. Gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, da klingelte es an der Tür. Ein Junge der Nachbarschaft fragte, ob meine Tochter zum Spielen kommen könnte. Sie durfte und freute sich. Meine Tochter ist ein Teenager. Als die beiden mit den Fahrrädern abdüsten, atmete ich das erste Mal seit vielen Monaten auf. Ich hatte also die richtige Entscheidung getroffen. Wir sind nämlich im August in die USA zurückgezogen. Hauptgründe waren der Sexismus und die Schulsituation für meine Tochter. Ich habe zwei Kinder. Einen Jungen und ein Mädchen. Nie hätte ich gedacht, dass die Erfahrung in Deutschland so gegensätzlich für die beiden werden könnte. Meine Kinder sind in den USA aufgewachsen. Ich selbst bin in Deutschland aufgewachsen, habe dort studiert und die ersten Berufsjahre verbracht.

Als wir nach Deutschland zogen war meine Erwartungshaltung groß. Ich wollte gerade meiner Tochter ein Land zeigen, das weitgehend ohne Waffen auskommt, wo es weniger Rassismus gibt, und auch Männer und Frauen gut miteinander zurechtkommen. In den USA hatte mich ein wenig genervt, dass Mädchen einem sehr hohen Schönheitsideal entsprechen müssen und dass sehr häufig noch ein sehr weibliches Verhalten eingefordert wird. Ich kannte dies von meiner Kindheit nicht und hielt diese überdurchschnittliche Feminisierung für ein amerikanisches Phänomen. Ich wollte auch, dass meine Kinder mehr Verantwortung und Selbständigkeit lernen, mehr alleine unternehmen, und Helikoptering nicht unbedingt als eine gute Erziehungsmethode angesehen ist. Leider traf das alles nur halb zu. Da mein Mann einen nordafrikanischen Hintergrund hat, suchten wir uns eine Schule aus, die nicht nur Ausländer kennt, sondern auch mit fremdsprachlichen und multikulturellen Kindern gut umgeht. Wo meine Kinder sich nicht so alleine und fremd fühlen, aber trotzdem deutschen Unterricht haben. Der Vater meines Mannes war in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts aus Ägypten geflüchtet. Er ist jüdisch. [Anmerkung der Redaktion: Von 1948 bis in die 1970er wurden circa 850.000 Juden aus arabischen Ländern vertrieben, siehe z.B. Wikipedia.]

Wir kamen im Sommer 2015 in Deutschland an. Ich hatte überhaupt keine Angst vor der anstehenden Flüchtlingskrise. Wie sollte ich auch. Meine Familie hatte nur positive Erfahrung gemacht. Ich hatte den Sohn eines ehemaligen Flüchtlings geheiratet. Ich war stolz auf den internationalen und multikulturellen Hintergrund meiner Familie. Wir waren letztendlich selbst Ausländer in Deutschland. Für meinen Sohn lief alles gut. Er hatte Freunde und unternahm an vielen Nachmittagen mit diesen etwas. Für ihn trat weitgehend alles ein, was ich mir von dem Deutschlandaufenthalt erhofft hatte. Er lernte mehr Selbstständigkeit. Er fuhr mit seinem Fahrrad zu Freunden anstelle darauf zu warten, dass ich ihn mit dem Auto herumkutschiere. Meine Tochter war anfänglich eine von drei Nichtmusliminnen in ihrer Klasse. Die Hälfte der Mädchen trug ein Kopftuch. Nach einem Jahr hatten die beiden anderen Nichtmusliminnen die Schule verlassen. Damit blieb nur meine Tochter und es gab nur noch zwei weitere Mädchen ohne Kopftuch in der Klasse. Nur einem Mädchen (ohne Kopftuch) war es erlaubt, nach der Schule etwas zu machen, mal zu spielen. Zu Jungen gab es überhaupt keinen Kontakt. Die Schule veranstaltete die Sporttage streng nach Mädchen und Jungen getrennt. Meine Tochter verlor den Spaß an Geburtstagsfeiern; es kam eh immer nur eine Person zu uns nach Hause. Die anderen Mädchen kamen nie trotz Einladung. Die Antworte war immer so etwas wie: "Die Eltern kennen Euch nicht, die wollen nicht, dass XZY kommt, ohne dass die Euch kennen.“ Also luden wir auch die Eltern ein. Auf diese Einladung erhielt ich keine Antwort. Zu ihrem Geburtstag weinte meine Tochter, weil sie 8 Mädchen eingeladen hatte, aber nur ein Mädchen auftauchte. Dasselbe passierte an Halloween. Sie verzichtete völlig darauf ihren nächsten Geburtstag zu feiern.

Ich merkte, dass sich die Einstellung meiner Tochter änderte. Sie wollte nicht mehr ins Schwimmbad, obwohl wir nur eine kurze Fahrraddistanz davon weg wohnten und Schwimmen eine ihrer Lieblingsaktivitäten in den USA war. Für den Schulschwimmsport der in diesem Jahr ab September stattfinden sollte, war sie bereits im Januar auf der Suche nach einem Badeanzug mit möglichst langen Ärmeln, damit sie ja keine Haute zeigen musste. Das war für mich erstaunlich, denn solche Anwandlungen hatte sie in den USA nie. Erst hatte ich gedacht, dass wäre nur ein Pubertätsanzeichen, aber die Abneigung gegen Schwimmen war so deutlich, dass ich irgendwann das Gefühl hatte, es müsse mehr dahinter stecken. Und tatsächlich hörte ich dann irgendwann, dass die anderen Mädchen auch nicht normalerweise ins Schwimmbad durften. Die anstehende Schwimmpflicht in der Schule setzte die Mädchen unter erheblichen Druck, da diese nun geeignete Badeanzüge finden mussten. So viel Stress, dass diese jungen Mädchen bereits ein Jahr vor dem Schwimmunterricht anfingen, ihr „Outfit“ zu planen. Ständig beklagte meine Tochter die Schlägereien in der Schule. Einmal wurde ein Krankenwagen gerufen, da eine Rauferei ausgeartet war. Keine meiner Gespräche mit der Schule fruchtete. Es war als waren alle entweder zu sehr an diesen Zustand gewöhnt oder wollten nicht darüber reden. Als ich endlich auf eine Lehrerin stieß, die meine Sorgen verstand, riet mir diese nur, vielleicht doch eine andere Schule zu finden. Ich wage kaum an dieser Stelle auf den maroden Zustand der Schule hinzuweisen: heruntergekommen, dreckig wirkend, viele Mängel, die dringend einer Renovierung bedurften. Schon seit Jahren wurde von Eltern und Schülern notdürftig Schönheitsreparaturen durchgeführt. Und man sah sehr deutlich, dass meistens nur Laien am Werk gewesen sein mussten.

Während dieser zwei Jahre wurde zweimal in der Schule eingebrochen. So wie in vielen Geschäften und in Zigarettenautomaten in meiner Nachbarschaft eingebrochen wurde. In der Gegend kam es zu einer Vergewaltigung und mehrfachen sexuellen Belästigungen mit verschiedenen Schweregraden. Ich selbst wurde mehrfach sexuell angemacht; das waren häufig ältere Herren, aber auch Halbstarke egal welche Konfession oder Ethnizität. Einmal versperrten mir zwei Männer, die ein sehr gebrochenes Deutsch sprachen, den Weg mit ihren Fahrrädern. Ich rannte schnell weg und schloss mich einem weiteren Läufer an. Glücklicherweise war ich nicht die einzige, die diesen Sonntagnachmittag zum Laufen nutzen wollte. Ein weiteres Mal schrie mich ein älterer Herr in der Straßenbahn als "Dumme Kuh" an, nur weil ich nicht schnell genug aus dem Weg ging. Die weiteren negativen und obszönen Worte, die er lautstark benutze, lasse ich lieber weg. Keine Person kam mir zur Hilfe. Ein Junge wurde in unserer Nachbarschaft totgeprügelt. Ich musste mehrfach mit meiner Tochter an der Gedenkstätte vorbeigehen und erklären, was passiert ist. Das war im Mai 2016. Einmal kam meine Tochter nach Hause und sage: „Ich glaube, Deutsche mögen keine Juden. Meine Mitschüler halten diese Religion für blöd.“ Das Thema Judentum war im Philosophieunterricht besprochen worden. Ein weiteres Mal beschrieb mein Sohn eine deutsche Frau für einen Aufsatz „mit Kopftuch“. Die Vollverschleierung, die doch einige Frauen hier im Ort tragen, fanden beide meiner Kinder merkwürdig, aber hielten dies für deutsch. Es gab Mütter ihrer Mitschüler, die mit Gesichtsschleier auftraten. Die Einschulungsveranstaltungen waren geprägt von Müttern mit Kopftuch. Bei anderen Abendveranstaltungen wie Theater- oder Chorauftritten war das weniger deutlich. Vielleicht kamen nicht alle. Als ich vorsichtig darauf hinwies, dass das Tragen von Kopftuch und Vollverschleierung eher ein Zeichen von Religion ist, wiesen meine Kinder mich darauf hin, dass Deutschland ein muslimisches Land sei, da so viele Kinder in der Schule muslimisch seien. Ja, die beiden hatten recht. An ihrer Schule waren überdurchschnittlich viele strenggläubige Muslime. Gefühlt mindestens 70%. In den jüngeren Klassen mehr als an den höheren Klassen. Meine Tochter behauptete, dass zum Zuckerfest die Schule wie leergefegt wirkte.

Und durch diese deutliche Mehrheitsverteilung bekamen meine Kinder ein sehr einseitiges Bild von Deutschland. Sie lernten, dass Mädchen und Jungen nichts miteinander machen und möglichst getrennt bleiben. Sie lernten, dass Frauen Kopftücher tragen und unter sich bleiben. Sie lernten eine gewaltbereite Gesellschaft kennen. Sie lernten, dass Jungs mehr dürfen als Mädchen. Sie lernten, dass Religionen sich gegenseitig ausgrenzen. So sollten meine Kinder nicht aufwachsen. Meine Sorgen konnte ich mit kaum jemandem teilen, meine Familie und Bekannte, die meist aus dem Norden und dörflichen Gegenden kommen, hatten andere Erfahrungen gemacht oder wechselten das Thema. Wir zogen zurück in die USA, denn es gab aufgrund von Arbeitsmöglichkeiten wenig Alternativen, den Ort spontan in Deutschland zu wechseln. Wie sehr ich mich heute gefreut habe, dass ein Junge meine Tochter zum Spielen abholte, kann ich nur zum Ende meines Textes noch einmal betonen. Ein gutes Zeichen, dass meine Entscheidung, das Land zu verlassen richtig war. Denn nur wenn Kindern lernen, miteinander umzugehen und sich nicht aufgrund von Identitäten zu segregieren, kann Gleichberechtigung funktionieren.

Mit freundlichen Grüßen von einer Auswanderin.

Bericht einer Auswanderin
Foto: Aaron Burden